Profis
20.08.16

#MehrAlsEinVerein

#MehrAlsEinVerein

Natürlich, natürlich. Jeder Fußball-Fan würde das behaupten. Anhänger just dieses einen – des eigenen – Vereins zu sein: Das ist mit nichts anderem vergleichbar. So ganz mag das nie stimmen. Auch nicht für die Spielvereinigung Unterhaching. Zu viele Vereine in diesem Land. Zu viele kleine Vereine. Zu viele, die den Marsch von oben nach unten mitgemacht haben. Zu viele, die sich trotz finanzieller Kämpfe und dann und wann großen Sports immer noch nach Familie anfühlen, auch auf den Rängen. Und doch schwöre ich, mit der ganzen Überzeugung des Fußball-Fans: So, wie in Haching ist es zumindest im Münchner Fußball nirgendwo anders. Schon gar nicht am Tag des DFB-Pokal-Spiels.

Stell Dir vor, es ist der große Tag. Der, an dem der Bundesliga-Fußball zu Besuch kommt. Es ist nur ein einziger Tag im Jahr. Vielleicht. Der große Fußball kommt in das Stadion, in dem einst der FC Bayern und Bayer Leverkusen verloren haben. In dem so viel abgestiegen wurde. In dem jetzt der VfR Garching entzaubert wurde, immerhin. Es ist der Tag, an dem die Kameraleute einmal wieder ihre teuren Geräte im kleinen Unterhaching zusammenschrauben, während du noch am Frühstückstisch sitzt.

Du weißt: Heute abend gibt es überhaupt keine Chance. Aber wenn doch, wird ganz Deutschland mitfiebern. Auf 77,45 Millionen gegen 2,45 Millionen Euro Marktwert beziffert transfermarkt.de das Leistungsgefälle. Keine Chance. Und eine ganz leise Stimme flüstert Dir: Wenn Haching spielt, gibt es immer eine Chance. Denn Du warst dabei, als Anfang 2003 im Schneesturm eine Regionalligamannschaft erst im Elfmeterschießen gegen Leverkusen verloren hat. Und gegen Mainz gewonnen. Als 2011 elf Jungspunde in der Gluthitze Freiburg niedergerungen haben. Als 2015 Ingolstadt und Leipzig verloren haben. Du suchst Dir die passende S-Bahn für den Abend raus und weißt: Genau jetzt arbeiten 18 Spieler und ein Trainerteam an dem geheimen Plan, lockern die Muskeln, ziehen bald die Stutzen zurecht. Du kennst sie alle vom Sehen nach dem Spiel im Biergarten. Du fieberst schon jetzt mit ihnen.

Wenn die S-Bahn am Bahnhof Fasanenpark eingefahren ist, beginnt die nächste Phase. Erste bekannte Gesichter entlang des asphaltierten Fußwegs. Ein Hallo hier, eines da. Hachinger Fan-Gespräche. Das heißt meist: Fatalismus. Immer geduldig mit der Niederlage rechnen und auf den Sieg hoffen. Haben wir eine Chance? Nein. Es sei denn, aus dem Zweisiedler wird der Dreisiedler. Gibt vielleicht auch wieder Extra-Urlaub. Wie damals nach Ingolstadt. Braucht nur ein kleines Wunder.

Ungefähr 1.400 Schritte sind es vom Bahnhof bis zum Eingang der Südtribüne. Du hörst die ersten Sprechchöre. Du weißt: Heute wird es voll. Direkt hinter dem Einlass öffnet sich das Panorama. West, Nord, Ost, Flutlichtmasten. Alles ganz nah. Die Kameras sind nun aufgestellt, die Osttribüne füllt sich. Es klingt nach Fußball, heute nach dem großen. Aus dem Spielertunnel, nur etwa zwei Armlängen entfernt, traben nach und nach die Bundesliga-Stars, du siehst die ersten paar Tropfen Schweiß auf ihren Schläfen glitzern. Auf das Heimtor schießen sich die Männer ein, die hier für die Wunder zuständig sind. Die hoffnungsvollen Zauberer für Erstrunden-Spektakel und Wiederaufstiege. Die Luft schmeckt elektrisch. Der Puls geht schon ein, zwei Schläge schneller. Irgendwas flimmert in deinem Magen. Heute, die einzige Chance. Großer Sport in der Vorstadt. Gleich. Bloß kein frühes Tor kassieren, gleich. Sie werden laufen müssen wie die Irren. Werden sie auch tun. Die Minuten verinnen, die Gespräche werden einsilbiger, dafür die Fahnen schon geschwenkt. Natürlich stehst du da, wo gesungen wird. Weit weg stehen könntest du ja nicht mal wenn du wollen würdest. Willst du auch gar nicht. Steh- und Familienblock ist in Haching eh eins. Schließt sich auch gar nicht aus. Sing mit, wenn du willst. Wenn nicht, dann eben nicht.

Dann fliegt Konfetti, 22 Mann stehen zum Einmarsch bereit auf dem Rasen. Elf Stars und elf Helden. Elf Meter von Dir entfernt. Du weißt, die Kameras schwenken jetzt auch über dein Gesicht. In Haching zählt die Kamera jeden in der Menge. Du stehst Schulter an Schulter und trittst von einem Bein aufs andere. Mit dem Pfiff beginnt die eine Chance. Kein frühes Tor kassieren. Der erste gegnerische Angriff wird von Stahl, Nicu oder Welzmüller abgegrätscht und du denkst, obwohl du es dir nicht erlauben willst: Vielleicht geht was. Jubel. Zwei Sekunden Entspannung und gleich wieder weiter. Das hier ist Fußball – und für heute gibt es keine bedeutungslosen Szenen. Jede verpasste Sekunde kann das Aus sein. Aber da unten verpasst keiner eine Sekunde. Hoffentlich. Wenn jetzt ein Tor für Haching fällt, wirst du dich ewig erinnern. Die Sportschau wird es dreimal in Slow Motion bringen.

Und dann, vielleicht, passiert es wieder. Nur, falls sich Wunder wiederholen. Ein gewonnener Ball, für eine Sekunde ein kollektives ungläubiges Springen auf der Tribüne, es scheint dir als bliebst du in der Luft stehen. Ein Sprint auf dem Rasen. So schnell kann doch niemand laufen, schwer zu glauben, das alles. Aber viel Zeit zum Glauben hast du auch nicht. Ein Pass und eine Grätsche und ein Ball zappelt im Netz. Das ist das letzte, was du für die nächsten Sekunden bewusst siehst. Dann wackelt das Bild. Bekannte Menschen springen dir um den Hals, du hörst dich jubeln, es ist laut, Arme überall, Schals, Schulterklopfen, eine Jubeltraube. Auf dem Rasen aus elf Spielern. Ringsum aus dreieinhalb Tribünen. Es ist nichts, was zu fassen wäre. Aber es passiert doch immer wieder. Du wirst dich anhand der Gespräche der Menschen um dich herum nun einige Male vergewissern, dass es tatsächlich passiert ist.

Die nächsten vielleicht 60 Minuten wirst du bange auf die Uhr schauen. 240 mal. Es wird eine seltsame Mischung aus irrationaler Angst und irrationaler Freude sein. Es ist ja nur Fußball. Aber gelungene Pässe des Gegners werden dich dazu bringen, angespannt Luft durch die Zähne einzusaugen und erst wieder auszuatmen, wenn der Ball zurückerobert ist. Beides wird oft passieren. Du wirst das Schnaufen der Spieler im Strafraum hören. Die ungläubigen, nervösen Frotzeleien auf der Tribüne. Dem Lärm zum Trotz. Die Sekunden werden nicht verrinnen, aber selten hast du alles andere so vergessen. Und Angst so genossen.

Dann, vielleicht nur, ganz vielleicht, wenn sich Wunder wiederholen, wirst du irgendwann die letzten zähen Sekunden herunterzählen. Du wirst diese letzten Sekunden verdammen und genießen. Du wirst wissen, dass du Teil eines bemerkenswerten Nachmittags warst. Dass das hier eine Schlagzeile ist. Mit deinem Gesicht im Kameraschwenk, deiner Stimme hörbar auf dem Rasen. Das Spiegeln des Spätsommerflutlichts im Auge des Torwarts.

Höchstwahrscheinlich kommt alles ganz anders. Aber falls nicht: Wirst du es nicht verpasst haben wollen. Andere Münchner Vereine fabrizieren im DFB-Pokal Pflichtsiege, Siege oder Blamagen. Haching schreibt Geschichte. Zumindest für dich. Und alle, die dabei waren. Manchmal sogar bei Niederlagen. Wer im Dezember gehört hat, wie Maxi Bauer gegen Leverkusen ein Tor schießt, der weiß, dass auch Vierminutenwunder Geschichte schreiben. Der Jubelschrei hallt noch jetzt von den Balkonen der Vorstadt-Wohnsilos entlang der S-Bahnlinie wieder. Für alle, die dabei waren.